9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Geschichte

1368 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 137

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.05.2024 - Geschichte

Die Stadt Hamburg war tief in den Völkermord an den Herero und Nama verstrickt. Gedenkorte gibt es nicht. Nun werden in der Hafencity spektakuläre Neubauten geplant - genau an der Stelle, "wo einst die Truppen nach 'Deutsch-Südwest' verschifft wurden", schreibt Jonas Kähler (taz) und bezieht sich auf eine Historiker-Initiative für eine Gedenkstätte: "Mehr als 90 Prozent der am Völkermord beteiligten deutschen Truppen reisten über den Ort, an dem jetzt die neuen Gebäude entstehen sollen, in das Kolonialgebiet. Mehr als 18.000 Soldaten und 11.000 Pferde wurden über den Petersenkai im Hamburger Baakenhafen verschifft. Die Bevölkerung zelebrierte die An- und Abfahrten der Truppen, teilweise kamen Tausende Zuschauer*innen in den Hafen. Regierungsvertreter reisten an, die Soldaten bekamen 'Liebesgaben' mit auf die Reise: Das waren meist Postkarten oder Zigarettentäschchen, die der Senat extra anfertigen ließ."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.05.2024 - Geschichte

Anlässlich des neuen Golda-Meir-Biopics (mehr in Efeu), erinnert Jan Ross in der Zeit an die israelische Premierministerin, die nach dem Sechstagekrieg 1967 als "pragmatische Hardlinerin" im Umgang mit den Arabern eine kluge Strategie fuhr, aber nichts von einem eigenen Palästinenserstaat wissen wollte: "Um Golda Meirs Haltung besser zu verstehen, muss man sich ins Gedächtnis rufen, wie die palästinensische Nationalbewegung in den späten 1960er- und in den 1970er-Jahren aussah: Sie war gewalttätig und unversöhnlich. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) unter Jassir Arafat verübte Terroranschläge und wollte, wie heute die Hamas und ihre islamistischen Gesinnungsgenossen, den jüdischen Staat vom Erdboden tilgen. Aus Meirs Sicht konnten die 1967 von Israel besetzten Gebiete allenfalls an Jordanien zurückgegeben werden und die Palästinenser dort ihre Zukunft finden, als Bürger eines bereits etablierten arabischen Landes. Ein neu geschaffener Palästinenserstaat hingegen war für sie undenkbar. Mit Blick auf Arafats damaligen Terrorkurs wirkt diese Einstellung vollkommen begreiflich."
Stichwörter: Meir, Golda, Plo

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2024 - Geschichte

Im Gespräch mit Lisa Berins von der FR wehrt sich Hermann Parzinger von der Preußen-Stiftung gegen Vergleiche von Kolonialgeschichte und Holocaust: "Die europäische Kolonialgeschichte hat, beginnend mit den Spaniern und Portugiesen, ein halbes Jahrtausend gedauert. Wir wissen, dass dadurch sehr viele Menschen zu Tode gekommen sind, entweder ermordet oder auch an von Europäern eingeschleppten Infektionskrankheiten gestorben. Aber das alles gegeneinander aufzurechnen, halte ich nicht für nicht zielführend. Der Holocaust ist und bleibt ein Menschheitsverbrechen. Innerhalb kürzester Zeit hat eine staatliche organisierte Tötungsmaschinerie einen Völkermord von unfassbarem Ausmaß begangen. Der Holocaust wird gerade für uns Deutsche deshalb immer singulär bleiben."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2024 - Geschichte

Deutschland feiert 75 Jahre Grundgesetz und Bundesrepublik. Linke und Rechte haben viel an ihnen auszusetzen, aber trotz vieler Mängel gibt es keinen Grund von "BRDnoir" zu sprechen, meinen der Historiker Friedrich Kießling  und der Rechtsprofessor Christoph Safferling in der FAZ. Und übrigens knüpft das Grundgesetz an eine lange Tradition an: "Das neue politische System war vor 75 Jahren keineswegs etwas Äußerliches, vom 'Westen' nach Deutschland Importiertes, wie es heute vor allem von den Vertretern der AfD und ihren Anhängern wieder verbreitet wird. Es knüpfte vielmehr an zahlreiche eigene Traditionsstränge an und steht gleichzeitig am Beginn der Bemühungen, die Konsequenzen aus den nationalsozialistischen Verbrechen zu ziehen."

Zum gleichen Thema besucht Welt-Autor Thomas Schmid die Herreninsel im bayerischen Chiemsee, wo das Grundgesetz maßgeblich formuliert wurde. "Üppiges Bayern. Auf dieser Insel fiel im ehemaligen Augustiner Chorherrenstift die Vorentscheidung dafür, dass die Grund- und Menschenrechte Verfassungsrang haben sollen. Und dafür, dass die Republik föderalistisch verfasst sein soll. Das waren die wichtigsten Ergebnisse des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, der vom 10. bis 23. August 1948 tagte. Hier und nicht in Bonn wurde der Grundriss der Bundesrepublik entworfen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.05.2024 - Geschichte

Harsche Kritik äußert der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg in der NZZ nach einem Besuch im Holocaust-Museum in Amsterdam nicht nur an der deutschen Erinnerungskultur. Holocaust-Pädagogik entpuppe sich als "Schule für Antisemiten", schreibt er: "War der Holocaust eine Zäsur in der Geschichte? Oder sollte der Holocaust als Teil der Kolonialgeschichte betrachtet werden? Diese Frage ist natürlich in erster Linie eine politische Frage, denn Geschichtsforschung bedeutet ja, Geschichte neu zu erfinden. Sicher ist, dass der Westen selbst, vor allem Deutschland, Auschwitz als seine Offenbarung betrachtete. Diese Offenbarung brachte im Westen eine neue Selbstidentifikation hervor, die Post-45-Theologie, die in den toten Juden die Märtyrer ihres eigenen neuen Ursprungsmythos entdeckte, komplett mit Menschenrechten und allem. Man gedachte der toten Juden, nahm sie behutsam auf und musealisierte sie schließlich. Der Feind war der Antisemit, der Faschist, der Völkermörder. Heute werden die toten Juden herbeigepfiffen, damit sie in verschiedenen Holocaust-Museen auf der ganzen Welt auftreten. Jugendliche werden in diese Museen geführt in der Hoffnung, dass sie weniger antisemitisch wieder herauskommen, als sie hineingegangen sind. Diese Hoffnung ist oft vergebens. Im besten Fall verlassen die Kinder das Museum und schreiben auf einen Zettel: 'Ich verspreche, netter zu sein.'" Was die Alternative zu dieser Erinnerungskultur wäre, sagt Grünberg nicht.
Stichwörter: Erinnerungskultur

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.05.2024 - Geschichte

Bei der Munich History Lecture hatte der Historiker Norbert Frei einen Vortrag zur Erinnerungskultur in Deutschland gehalten, in dem er Claudia Roths Rahmenkonzept vorsichtig kritisierte, vor allem aber über "Angriffe" von postkolonialer Seite auf die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sprach. In der FAZ fragt sich Patrick Bahners, wie der "vermeintliche 'Feind'" der Auseinandersetzung überhaupt gefährlich werden soll: "Bei wem stoßen postkoloniale Thesen auf Resonanz? Welche 'gesellschaftlichen Selbstverständigungsbedürfnisse', wie Frei die Energie der klassischen Geschichtsdebatten à la Walser umschrieb, finden postkolonialen Ausdruck? Betrachtet man den wissenschaftsnahen Aktivismus unter den Aspekten von Trägermilieu und Programmatik, drängt sich entgegen Freis Behauptung vom Bruch die Kontinuität zur kritischen Geschichtsarbeit der Bundesrepublik auf. Die Nachfolger der Geschichtswerkstattsgründer kümmern sich um die Umwidmung von Straßen in 'afrikanischen' Vierteln. Und wenn sie Bezüge zwischen Völkermorden in Afrika und dem Holocaust herstellen, wird die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht abgebrochen, sondern fortgesetzt und forciert, indem die NS-Verbrechen wieder wie 1968 als Musterfälle für das strukturelle Gewaltpotential moderner Politik dienen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.05.2024 - Geschichte

Richard Herzinger publiziert auf seinem Blog eine Rede, die er zum Jahrestag der deutschen Niederlage am sowjetischen Mahnmal in Berlin-Treptow vor einer Gruppe russischer Oppositioneller gehalten hat. Gesprochen hat er über Putins obszönen Missbrauch der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: "Die ganze Perfidie und Verlogenheit der 'antifaschistischen' Camouflage des Kreml wird daran deutlich, dass er in Wahrheit der wichtigste finanzielle und propagandistische Förderer sowie ideologische Einflüsterer der extremen Rechten in Westeuropa ist. Um seine 'antinazistische' Maske passend zu machen, muss Putin indes zentrale Teile der historischen Wahrheit aus der Geschichte tilgen. So etwa die, dass der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 der NS-Kriegsmaschinerie überhaupt erst den Weg zur Invasion Polens geebnet hat, wofür sich die Sowjetunion mit der Besetzung und brutalen Unterwerfung Ostpolens sowie der gewaltsamen Einverleibung der baltischen Staaten schadlos hielt."

An Josip Broz Tito, dem ehemaligen Staatsoberhaupt Jugoslawiens, scheiden sich heute die Geister, berichten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander in einer Reportage für die NZZ: "Besonders für Touristengruppen aus dem Ausland ist Tito eine Attraktion. Unter den Einheimischen sind die Meinungen über ihn streng geteilt. Die Trennlinie verläuft zwischen dem größtenteils bosniakischen Osten und dem überwiegend kroatischen Westen." Nirgendwo zeige sich das deutlicher, als an dem vom Belgrader Architekten Bogdan Bogdanović entworfenen Partisanenfriedhof in Mostar, der immer wieder mutwillig beschädigt werde. "Die politische Verantwortung tragen die nationalkroatischen Politiker der Stadt, für die das Werk nur eine lästige Erinnerung an die Einheit und Brüderlichkeit der jugoslawischen Völker darstellt. Der 2010 im Wiener Exil verstorbene Bogdanović war nicht nur Architekt und Denkmalbauer, sondern auch ein ziemlich liberaler jugoslawischer Kommunist. In den achtziger Jahren hat er als Bürgermeister von Belgrad amtiert, bis die reformorientierte Parteiführung der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Serbien von den Nationalkommunisten um Slobodan Milošević in die Wüste geschickt wurde. Heute, unter der Präsidentschaft von Aleksandar Vučić, hat sich der faschistoide Nationalismus von Milošević in Serbien erneut verfestigt, während die marxistischen Lehren der Tito-Ära einem putinesken Mystizismus gewichen sind."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.05.2024 - Geschichte

In der Welt blickt der Nahost-Wissenschaftler Asiem El Difraoui auf die Geschichte Gazas, das immer wieder umkämpft wurde: "637 fiel Gaza in die Hände des legendären muslimischen Generals und Eroberers Ägyptens, Amr ibn al-As. Die byzantinische Garnison wurde getötet, aber die Bevölkerung verschont. Die meisten Christen konvertierten relativ schnell zum Islam. Nicht durch Zwangskonversion, sondern weil sich die Bevölkerung davon politische und finanzielle Vorteile versprach, und vor allem auch, weil der Islam zur schillernden Hochkultur der Region wurden. Die kleinere jüdische Gemeinde, die seit der hellenistischen Periode in Gaza und auch in der Stadt Rafah präsent war, zahlte die Schutzsteuer, die sie vom Militärdienst entband, die Dhimma, und wurde nicht behelligt. Gaza wurde übrigens nie im Konsens der jüdischen Gelehrten als Teil von Eretz Israel betrachtet, dem gemäß der Talmud biblischen Land von Israel. Die jüdische Gemeinschaft blühte unter muslimischer Herrschaft bis zu den Kreuzzügen auf."

In einem interessanten Hintergrundartikel für die FAZ geht der Zeithistoriker Martin Sabrow auf den Streit um Claudia Roths erinnerungspolitische Konzepte ein: "Offensichtlich steht in der allgemeinen Wahrnehmung mehr auf dem Spiel als die Finanzierung der Gedenkstättenarbeit. Es geht um die künftige Ausrichtung staatlicher Geschichtspolitik insgesamt." Sabrow erzählt, wie es überhaupt erst dazu kam, dass der Bund in diesen Fragen federführend ist - man musste nach dem Mauerfall übergreifende Konzepte finden. Aber "die eigentliche Brisanz des vorgelegten Entwurfs ergibt sich dadurch, dass er die Scheidelinie zwischen staatlichem Gedenken und öffentlichem Erinnern mit Aplomb übertritt. Die Behörde der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) hat aber keinen erinnerungskulturellen, sondern lediglich einen gedenkpolitischen Auftrag. Sie soll Einrichtungen von nationaler Bedeutung finanziell unterstützen, aber sie hat keine normativen Überlegungen anzustellen oder gar Initiativen zu ergreifen, wie die Gesellschaft sich ihrer Vergangenheit zu erinnern hat."

Weitere Artikel: Auf den Wissenschaftsseiten des Tagesspiegels erinnert der Historiker Julius Schoeps an die Bücherverbrennung heute vor 91 Jahren.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2024 - Geschichte

"Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist in den Dissertationen und Habilitationen stecken geblieben", beklagt die Schriftstellerin Anne Rabe in der SZ. So sei die in den Neuen Ländern eher verbreitete pro-russische Haltung auch Ausdruck mangelnder Verarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte: "Doch das ist keine Angelegenheit, die nur den Osten betrifft und keine, die nur der Osten verbockt hat. Es ist die Folge politischer Entscheidungen. Auch westdeutsche Politiker wie Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble argumentierten gegen eine umfassende Aufarbeitung, um den Transformationsprozess nicht zu stören. Und es ist die Folge eines arroganten Desinteresses im Westen. Die Opfer des Stalinismus waren nur so lange interessant, wie man mit dem Gedenken an sie die DDR verhöhnen konnte. Mit der Wiedervereinigung verschwand der 17. Juni als Feiertag in der Bundesrepublik geräuschlos."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2024 - Geschichte

Heute vor fünfzig Jahren trat Willy Brandt in Folge der "Affäre Guillaume" zurück. In der SZ erinnert sich dessen Sohn Matthias Brandt an einen Vater, der am Abend des 07. Mai 1974 lachend vom Fernseher saß. Einer wie Brandt fehlt heute, kommentiert Nils Minkmar ebenda: "Die langfristige Folge des Rücktritts Brandts für die politische Kultur Deutschlands ist nicht zu übersehen: Nie wieder hat es nach ihm ein Kanzler oder eine Kanzlerin zugelassen, als intellektuelle und zweifelnde, nachdenkliche Person zu gelten, die zugleich keine Scheu vor den schönen Seiten des Lebens zeigt. Mitten in der politischen Krise der SPD, die seinem Rücktritt vorausging, lud die Bundestagsfraktion die Schriftsteller Günter Grass, Thaddäus Troll und Heinrich Böll zum Austausch. Böll sagte anschließend, offenbar sei es gerade Mode, Brandt 'fertigzumachen'. Nie wieder sollten Schriftsteller in Deutschland eine solch politische Rolle spielen. Nach seinem Rücktritt am 7. Mai vor 50 Jahren galt die von Brandt verkörperte geistige und politische Kreativität, die Verhältnisse hinterfragt und ändern möchte, als frühes Symptom von Schwäche. Ihm folgten im Amt des Kanzlers ein Macher, ein Aussitzer oder Kombinationen davon."